Deutschland als „gestaltender Akteur der Entwicklung“?

Professor Gunnar Heinsohn, den ich an dieser Stelle regelmäßig zu Eigentumsökonomik und Demografie verlinke, hat mir freundlicherweise diesen Beitrag zur Verfügung gestellt. Er erschien vor einiger Zeit in der nur Abonnenten zugänglichen Österreich-Ausgabe der NZZ:

Am 20. Februar 2016 erlaubt uns Herfried Münkler in der ZEIT einen Einblick in die Überlegungen Angela Merkels vor der Grenzöffnung vom 4. September 2015, obwohl er bei der direkten Entscheidung „nicht dabei gewesen ist“. Deutschland sollte, „so das Kalkül der Regierung, gemeinsam mit Österreich und Schweden, die inzwischen ausgestiegen sind, als eine Art‚ Überlaufbecken‘ dienen, das die Zeit verschaffen sollte, eine europäische Lösung herbeizuführen“. Mit dieser Volte gegen die Sorgen von Rüdiger Safranski, Peter Sloterdijk und vielen anderen kann die Geschichtsschreibung zum Bruch der Dublin-Verordnungen ernsthaft beginnen. Das Changieren der Regierung zwischen Rechtstreue und Verfassungswidrigkeit bleibt hier außer Betracht, weil die Literatur dazu bereits unüberschaubar ist. Die Frage allerdings, ob Angela Merkel aus Güte gehandelt hat oder harte Vorwürfe der Kaltherzigkeit wegen ihrer verspäteten Lagerbesuche durch eine Überreaktion zum Verstummen bringen wollte, wird kurz zu streifen sein. Vor allem geht es um die Glaubhaftigkeit des tiefgründigen Planens. Wenn es tatsächlich stattgefunden haben soll, will man doch wissen, was man der Kanzlerin im Zeitpunkt ihrer folgenreichen Entscheidung alles verschwiegen hat und was selbst ihren Beratern unbekannt war.
Am leichtesten hätte man die Unwägbarkeiten einer Politik des Überlaufbeckens natürlich an Merkels eigener Heimat studieren können. Die Territorien der DDR verlieren – zumeist nach Westdeutschland – zwischen 1949 und 1989 rund 3,8 Millionen Bürger. Ab 1990 wandern weitere 2 Millionen ab. Obwohl die Lösungen der Probleme vor Ort je nach Berechnung zwischen 1300 und 2000 Milliarden Euro verschlingen, finden von den 5,8 Millionen nur 400.000 wieder nach Hause – viele davon noch während der Zeit von Mauer und Schießbefehl. Ungeachtet des langen Zeitraums und der Hyper-Summen wird die erhoffte Beseitigung der Auswanderungsgründe in Deutschlands „Peripherie“ zu einem Fiasko. Bis heute bestimmt die Demografie der neuen Länder als unaufhaltsames Absterben, für das niemand eine Heilung kennt.
Wer Deutschland dennoch „als Macht der Mitte“ (Münkler) in der Pflicht sieht, verschließt die Augen vor seiner Schwäche. Nicht nur der Osten steckt in der Schrumpfvergreisung. Aus eigener demografischer Kraft sackt die gesamte Bundesrepublik zwischen 2010 und 2060 von 48 auf 28 Millionen Erwachsene im Alter von 20 und 65 Jahren. Nach all den längst verlorenen Industrien – Kameras, Telefone, Fernseher, Computer, Tonträger, Schiffbau, Nukleartechnologie etc. – könnten selbst die Automobilkonzerne irgendwann ihren letzten Schnaufer tun. Schon jetzt sind Deutschlands Soldaten – statistisch betrachtet – einzige Söhne oder gar einzige Kinder ihrer Mütter. Wie oft kann man so einen Jüngling in Todesgefahr schicken, um in Mali oder Afghanistan zehn dritte und vierte Brüder vom gegenseitigen Massakrieren oder vom Verschleiern ihrer Schwestern abzuhalten? Tötet er, berührt das die Fortexistenz der Gegner kaum. Fällt er, ist seine eigene Familienlinie ausgelöscht. Selbst für ihr eigenes Land wären nur noch 18 Prozent kampfbereit. Die Mittelmacht steht demografisch auf tönernen Füßen. Wer sollte sich vor ihr fürchten oder gar militärisch bei ihr Hilfe suchen? Als Münklers Gewährsmann Helmut von Moltke (1800-1891) Strategie treibt, gibt es in Preußen sechs Kinder pro Frauenleben und nicht nur ein Viertel davon wie heute. Gibt es da keine Wende, werden auch alle anderen Großprojekte irrelevant. Dieses unaufhaltsam fortschreitende Schwächeln ungeschönt nach außen zu tragen, könnte gegen Dämonisierungen der Bundesrepublik mehr bewirken als Merkels „Deutschland ist stark“.
Wenn Herfried Münkler jenseits der deutsch geführten „Integration in die EU“ nur eine „Wiederherstellung des Nationalstaats“ fürchten kann, zeigt das die immer noch eiserne Bindung des strategischen Denkens an den Nationalismus. Zukunftsfähigkeit zumindest für Teile von Europa ist selbstverständlich nur durch multinationale Zuschnitte zu haben. Die aber nur im Korsett des Brüsseler Kollektivismus denken zu können, wird zur härtesten Blockade für ein nicht-reaktionäres Weitergehen. So wäre etwa der Bogen von Grönland/Island über Großbritannien und Skandinavien bis hin nach Estland mit 3,8 Millionen Quadratkilometern und 120 Millionen Menschen ein Raum mit veritablem Durchhaltevermögen für das 21. Jahrhundert. Er ist ökonomisch homogen und mit den Anglo-Nuklearwaffen auch zu verteidigen. Er hätte trotz aller Vielfältigkeit eisern geschützte und übrigens minimale Landgrenzen, weil allein sie die qualifikationsorientierte Auswahl der auch weiterhin benötigten Zuwanderer ermöglichen.
Ein solcher Raum wäre gleichwohl anschlussfähig. Aufgrund der strategischen Bedeutung des Nordostsee-Kanals wäre etwa eine Ausdehnung bis nach Hamburg denkbar. Eine Flurbereinigung über nationale Grenzen hinweg bleibt unvorstellbar, wo man nur die EU oder Deutschland auf dem Radar hat. Vorwürfe des Separatismus würden den Nationalismus dieser Denkart schnell offenbaren. Gerade die deutsche Besessenheit, immer wieder den „europäischen Zusammenhalt“ (Münkler) à la Brüssel erzwingen zu wollen, verstellt den Blick auf neue Aufteilungen, bei denen es nicht mehr um eine chauvinistische Klammer zwischen Bayern und Schleswig-Holstein geht. Würde das die ZEIT tangieren? Gewiss, aber sie würde ihre Leser finden wie die Neue Züricher Zeitung auch und für hoffnungslose Bremer gäbe es endlich ein nahes Migrationsziel. Man vergisst zu oft, dass man Österreich, die Schweiz, Luxemburg und Liechtenstein doch auch zufriedenlässt und nicht als Spalter verteufelt.
Doch zurück zum Kontinent, für den Deutschland als Überlaufbecken am allerwichtigsten wird. Zwischen 1950 und 2015 springt die Bevölkerung im Afrikas Subsahara-Raum von 180 auf 980 Millionen und soll 2050 bei 2,1 Milliarden stehen. 600 Millionen sind ohne Stromanschluss und können selbst von den überwundenen DDR-Zuständen nur träumen. Die Zahl der absolut Armen (1,90 $ pro Tag) springt allein zwischen 1990 und 2011 von 280 auf 390 Millionen (PovcalNet 2015). Deshalb verwundert nicht, dass bereits 2009 das Gallup-Institut 38 Prozent der dortigen Bevölkerung als migrationswillig einschätzt. Das wären heute 390 und 2050 rund 840 Millionen Hilfesuchende.

Wenn nun 100 Millionen Deutsche, Österreicher und Schweden mit ihrem Durchschnittsalter von 44 Jahren viele Hundert Millionen im Durchschnitt nicht einmal halb so alte Afrikaner aufnehmen sollen, bis ihre Heimatländer lebenswert werden, muss man die Enormität dieser Aufgabe bedenken. In Schweden etwa wird pro Kopf hundertmal so viel exportiert wie im Subsahara-Raum. Hat Berlin genügend Fachkräfte für die Überwindung dieser Differenz? Es lässt sich doch leicht ermitteln, wie viele Helfer man heute und in Zukunft über das Mittelmeer schicken könnte. In Gesamt-Europa (mit Russland) gibt es 2015 rund 140 Millionen Menschen unter 18 Jahren. Für 2050 werden sogar nur noch 130 Millionen erwartete. Gesamt-Afrika (mit dem arabischen Norden) hat heute 540 und 2050 rund 1000 Millionen Kinder und Jugendliche im selben Alter. Die hiesigen Jugendlichen reichen vorne und hinten nicht, um die Alten zu versorgen sowie die zornigen Gleichaltrigen ohne Ausbildung ruhig zu halten. Wie soll dann jeder noch zusätzlich vier oder acht Afrikaner für die globale Konkurrenz fit machen? Selbst innerhalb der EU liegt 2016 das Bruttosozialprodukt immer noch unter dem Gipfel vom Frühjahr 2008. Jedes weggehende Talent beschleunigt das Absinken. Jede nach Ankara geschickte Milliarde fehlt für die Verteidigung der längst erodierenden Wettbewerbsfähigkeit.
Bei allem von den Deutschland-Strategen Übersehenem überrascht im September 2015 das Fehlen von Verordnungen für das europaweit so folgenreiche Durchbrechen der Dublin-Regeln. Auch die Aufnahmeeinrichtungen für Millionen sind nicht fertig, als die Tore aufgehen. Wie soll man diese chaotische Situation nachvollziehen? Hat man der Kanzlerin verschwiegen, dass allein in Afrika seit den 1960er-Jahren nach Vertreibung der Europäer über 18 Millionen Menschen in Kriegen und Genoziden umkommen und das Töten auch bis 2015 nie aufhört (Zahlen u. a. in Allein in Merkels Kanzlerschaft gibt es eine üppige Zehnjahresfrist (2005-2015) für den geplanten „Tausch von Raum gegen Zeit“, um die Politik der Herzen mit Sondergesetzen und urbanen Strukturen realitätsfest zu machen. Es sind die Erbarmungslosigkeit und das Fehlen jeglicher Vorbereitung bis 2015, die es so schwer machen, die humanitären Begründungen für den 4. September zu glauben. Hier – wie Sloterdijk – „eine hilflose Reaktion auf Unerwartbares“ zuzugestehen, ist liebenswürdig gegenüber Angela Merkel. Ihre Stäbe jedoch gehören für all die Seinsvergessenheit gegenüber dem für jedermann zu Erwartenden vor einen Untersuchungsausschuss.
Was hätten sie zum arabischen und islamischen Raum wissen müssen? Das nicht endende Erstaunen über die große Zahl junger Männer unter den Kommenden ist doch nur möglich, weil man die Spitze über globale Differenzen beim Kriegsindex im Unklaren gelassen hat. In Deutschland liegt er 2014 bei 0.66. Auf 1000 rentennahe Männer zwischen 55 und 59 Jahren folgen lediglich 660 Jünglinge zwischen 15 und 19 Jahren, die den Lebenskampf aufnehmen. In Pakistan aber sind es nicht 660, sondern 3600, in Syrien 3700, in Jemen 5700, in Gaza 6200 und in Afghanistan 6400, die um nur 1000 Positionen kämpfen müssen. In Schwarzafrika liegen die Spitzen sogar bei 6900 (Uganda) und 7000 (Sambia). Wer in dieser Aussichtslosigkeit nicht töten oder sterben will, schlägt ganz selbstverständlich den Weg des Wirtschaftsflüchtlings ein. Dorthin will aus dem Raum von Marokko bis Kapstadt sowie hin bis nach Pakistan und Indonesien momentan eine halbe und bis 2050 mehr als Milliarde. Das alles bleiben bei heute dort lebenden 2 Milliarden und für 2050 erwarteten 3,7 Milliarden durchaus bescheidene Quoten. Jeder vor Ort Bleibende allerdings, der schließlich doch mit Schüssen auf die heimischen Eliten nach oben kommen will, verwandelt sein Land in ein Kriegsgebiet, in das nach internationalem Recht niemand zurückgeschickt werden darf, dann aber noch mehr wegwollen.
Über ganz lange Fristen hinweg wird sich die arabische (nicht die afrikanische) Situation entspannen, aber hat man zwischen Wien, Berlin und Stockholm genügend Jahrzehnte und die vielen Millionen Experten, um die Geflohenen zu versorgen und den Ferngebliebenen moderne Ökonomien hinzustellen? Von 70 auf 380 Millionen Araber geht es seit 1950. 2050 sollen die stolzen Völker zwischen dem Atlasgebirge und den Stränden Omans fast 650 Millionen umfassen. Nach dem Gallup-Befund von 2009 hätten nur 23 Prozent bzw. 87 Millionen emigrieren wollen. Nach einer aktuellen Erhebung wollen heute 35 Prozent bzw. 133 Millionen weg. Das ist ein Befund, den die Kanzler-Berater im September 2015 nicht kennen können, weil man ihn erst im Dezember 2015 vorlegt. Aber überraschen kann er nach all dem Gemetzel seit 2011 auch nicht. Die neue Untersuchung zeigt – bei 85 Prozent harten Antisemiten – überdies den entsetzlichen Erfolg der arabischen Erziehung zum Judenmord, wobei gerade Syrien seit 2001 bestens erforscht ist. Jeder hätte auch ohne die jetzige Panik in den jüdischen Gemeinden wissen können, wen er da holt. Man kann nur hoffen, dass dabei lediglich komplette Gedankenlosigkeit im Spiel gewesen ist.
Angesichts all dieser Ausfälle wirkt die Strategie des Überlaufbeckens wie die hastig nachgeschobene Rechtfertigung eines wohl doch psychologisch motivierten Versuchs, die moralische Oberhand zu gewinnen. Seit 1. März 2016 ist ja auch die Kälte aus der Zeit vor dem 4. September 2015 wieder da. Zu den Frierenden von Idomeni kommt von Merkel nur ein knappes: „Es gibt Übernachtungsmöglichkeiten und Aufenthaltsmöglichkeiten in Griechenland.“

Die Vergangenheit und Zukunft der Deutschen zusammendenkende Politik eines „gestaltenden Akteurs“ (Münkler) hat es nicht gegeben. Zumindest kann man die Millionenaufnahme nur dann als gewollten Zeitgewinn für die Lösung der Probleme von Afrika bis Zentralasien hinstellen, wenn man die Diagnose einer kaum nachvollziehbaren geopolitischen Inkompetenz der Berliner Führung hinzufügt.

 

Kommentare (3) HINWEIS: DIE KOMMENTARE MEINER LESERINNEN UND LESER WIDERSPIEGELN NICHT ZWANGSLÄUFIG DIE MEINUNG VON BTO.
  1. Marcel Rose
    Marcel Rose sagte:

    Also wenn das ein Aprilscherz ist, dann bin ich drauf reingefallen. Dafür hab ich einfach zu oft beim durchlesen genickt.

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