Uscitalia statt Brexit: Der große Knall steht noch bevor

„Please don`t go“ – auf dem Titel fleht der SPIEGEL in dieser Woche die Briten an, in der kommenden Woche gegen einen Brexit zu stimmen. Tatsächlich wäre ein Brexit gerade aus deutscher Sicht ein herber Schlag, würde es doch die Machtverhältnisse in Europa noch mehr zu den staatsgläubigen und umverteilungsorientierten Staaten des Südens verlagern. Mit England verließe eine Stimme der wirtschaftlichen Vernunft den Klub.

Auf mehr als zwanzig Seiten im Heft zählt der SPIEGEL viele Argumente für einen Verbleib Großbritanniens auf und erläutert die Motive der Austrittsbefürworter. Dabei entsteht der Eindruck, als trauerten Befürworter eines Austritts der glorreichen Vergangenheit nach, bemängelten zurecht die überbordende Bürokratie Brüssels, würden im Allgemeinen jedoch eher emotional als rational handeln. Schließlich würde niemand, der rational denkt, ernsthaft über einen Austritt nachdenken, so der Tenor des SPIEGEL.

Zunehmende wirtschaftliche Spannungen

Was nicht zur Sprache kommt, sind die erheblichen wirtschaftlichen Probleme innerhalb der EU und der Eurozone. Mit keinem Wort wird darauf hingewiesen, dass hinter den zunehmenden politischen Spannungen in der EU erhebliche ungelöste und weiterwachsende ökonomische Divergenzen stehen. Stattdessen darf Finanzminister Wolfgang Schäuble im Interview die steile These aufstellen, dass Spanien, Portugal und Irland „die Krise überwunden haben“ und in Griechenland „auch viel passiert sei“. Fakt ist, dass

  • in Griechenland die Euroländer ihre Politik der Konkursverschleppung ungebremst fortsetzen.
  • Spanien seit Jahren die Staatsschulden nicht stabilisieren kann und auch nie können wird, wie McKinsey vorgerechnet hat.
  • Portugal mit einer Gesamtverschuldung über dem Niveau von Japan (rund 400 Prozent des BIP) sowie einer schrumpfenden Bevölkerung offensichtlich pleite ist.
  • Irland trotz der unstrittigen Wettbewerbsfähigkeit aus eigener Kraft niemals die Schuldenlast von Staat und Privaten ordentlich bedienen kann.

Ohne die Negativzinspolitik der EZB wäre der Euro schon heute Geschichte und nicht, wie Schäuble weiter ausführt, die „unangefochtene Weltreservewährung Nummer zwei und stabil.“ Nur der EZB ist es zu verdanken, dass Staaten mit höheren Schulden und schlechterer Demografie als die USA, tiefere Zinsen auf ihre Staatschulden bezahlen.

Allerdings kann die EZB die eigentlichen Probleme der Länder nicht lösen. Weder kann sie die Schulden aus der Welt schaffen, noch die Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen. Das könnte nur die Politik, die sich aber nicht traut, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Stattdessen wachsen die Schuldenberge immer weiter, und die Ungleichgewichte zwischen den Euroländern bestehen weiter fort, allen Fortschritten zum Trotz.

Deutschland profitiert vom schwachen Euro

Währenddessen feiern wir Handelsbilanzüberschüsse, die im laufenden Jahr neun Prozent des BIP erreichen dürften. Die starke deutsche Wirtschaft spielt auch in der aktuellen Brexit Diskussion in Großbritannien eine entscheidende Rolle. Nur selten wird es so offen ausgesprochen wie in einem Kommentar im konservativen The Telegraph.

In dem Beitrag werden die deutsche Wirtschaftspolitik und das Verweigern einer konstruktiven Lösung für die Probleme der Eurozone angeprangert. Dabei geht die Argumentation knapp beschrieben so:

  • Deutschland partizipiert an einer Schwachwährung, die ohne die Teilnahme Deutschlands schon lange kollabiert wäre. Deshalb kann Deutschland deutlich mehr exportieren, als wenn es noch die Deutsche Mark gäbe.
  • So gewinnt Deutschland Marktanteile und wirtschaftlicher Stärke gegenüber Euroländern wie Frankreich und Italien, denen es mit Franc und Lira besser erginge, aber auch gegenüber Großbritannien.
  • Zusätzlich befördert wird dieser deutsche Exporterfolg durch die einheitlichen Standards im Binnenmarkt, die naturgemäß die exportstarken Länder begünstigen würden.

„Germany is so rich, and getting richer at the expense not least of its partners“, schreibt der Telegraph und schließt: “German domination of the EU means it has conquered without war, and signing up to the EU is signing up to the Fourth Reich.” Natürlich eine Frechheit.

Sieht man über die Rhetorik hinweg, wird deutlich, dass eine Kombination aus Währungsdumping und unfairem Wettbewerb nach dieser Auffassung hinter dem deutschen Handelserfolg steht. Zu Ende gedacht kann die Lösung nur in einer Begrenzung der deutschen Exporte liegen.

Das Problem an dieser Argumentation ist – wie so oft bei populistischen Aussagen – dass sie durchaus einen Kern Wahrheit haben. In der Tat haben wir in den vergangenen Jahren vom schwachen Euro profitiert und uns darauf verlassen, billiger statt besser zu sein. So ist die Produktivität pro Kopf in den Jahren seit der Euroeinführung nur noch schwach gewachsen.

Politische Spannungen die zwangsläufige Folge

JP Morgan hat bereits im Jahre 2012 darauf hingewiesen, dass eine deutliche Divergenz der wirtschaftlichen Entwicklung in Europa in der Vergangenheit zu Spannungen bis hin zu Kriegen geführt hat. Ich habe die Analyse um eine Darstellung der heutigen Entwicklung ergänzt:

Relative Wirtschaftsentwicklung Indikator für Spannungen: BIP Deutschland relativ zu Nachbarländern

 

 

 

 

 

 

 

 

Natürlich gab es in der Vergangenheit viele weitere Faktoren, die zu den kriegerischen Auseinandersetzungen geführt haben und im Unterschied, zum englischen Premier David Cameron sehe ich keine erneute Kriegsgefahr in Europa. Auch ist die Divergenz noch lange nicht so drastisch wie in den früheren Perioden, dennoch sollten wir sie als Indikator ernst nehmen. Auf jeden Fall ernster, als es die deutsche Politik zurzeit tut.

Es ist angesichts dieser Entwicklung nämlich kein Wunder, dass die Bevölkerungen mit der relativen Entwicklung in Europa unzufrieden sind. Erst vor ein paar Monaten konnte die Eurozone gesamthaft wieder das Vorkrisenniveau erreichen. Italien und Spanien sind davon noch weit entfernt, Frankreich bleibt in der Dauerrezession gefangen. Das zeigt sich auch an der Haltung zu Europa. Zwar stimmen nächste Woche nur die Briten ab, doch auch in vielen anderen Ländern wünscht sich die Bevölkerung eine solche Abstimmung. In Frankreich immerhin 55 Prozent und in Italien fast 60 Prozent. Könnten sie abstimmen, würden mehr als 40 Prozent der Franzosen und fast 50 Prozent der Italiener für einen Austritt votieren. Hauptursache für diese Entwicklung sind die erheblichen deutschen Handelsüberschüsse und die völlig fehlgeleitete deutsche Europolitik.

Deutsches Exportmodell verschärft Spannungen

Eine wesentliche Voraussetzung für die Genesung der Eurozone und damit Europas ist ein Abbau der internen Ungleichgewichte. Dabei geht es vor allem darum, die Handelsdefizite und -überschüsse zu reduzieren. Zwar kam es in den vergangenen Jahren zu Fortschritten auf diesem Gebiet, jedoch vor allem durch einen Rückgang der Importe, weniger durch mehr Exporte aus den Krisenländern. Deutschland hat unterdessen den Handelsüberschuss mit den Euroländern reduziert, gesamthaft jedoch deutlich ausgeweitet.

Unsere einseitige Fokussierung auf den Export führt zunehmend zu Spannungen in Europa und der Welt. Sich dabei nur auf die Stärke der deutschen Industrie zu berufen, ist bequem und falsch. Natürlich profitiert gerade die deutsche Industrie von der Globalisierung und Industrialisierung. Doch ohne den schwachen Euro und die zunehmende Verschuldung unserer Kunden wäre dieser Exporterfolg gar nicht möglich.

Mit den Exportüberschüssen entziehen wir anderen Ländern Kaufkraft und Nachfrage. Die einheimische Industrie in diesen Ländern verliert immer mehr an Wettbewerbsfähigkeit, während wir zugleich nicht ausreichend importieren, um der Welt andere Waren abzunehmen. Damit fehlt der Welt Nachfrage und es ist angesichts der schwachen weltwirtschaftlichen Entwicklung nicht verwunderlich, dass die Spannungen zunehmen. Es wäre auch in unserem Interesse, den Handelsüberschuss zurückzuführen.

Hinzu kommt, dass wir die Erlöse aus dem Export im Ausland anlegen. Handelsüberschüsse gehen nämlich zwangsläufig mit einem entsprechenden Exportüberschuss von Kapital einher. (Mehr zu den Zusammenhängen finden sie hier.). Alleine im Jahr 2015 haben wir Kapital im Volumen von 8,6 Prozent des BIP ins Ausland exportiert. Überwiegend in Form von Krediten. Nun ist es aber nicht sonderlich schlau, sein Geld Schuldnern zu leihen, die schon heute zu viele Schulden haben. Bereits in der Vergangenheit haben wir unser im Export verdientes Geld äußerst schlecht angelegt, wie zum Beispiel in US-Subprime-Krediten, womit wir nach Berechnungen des DIW immerhin 400 Milliarden Euro verloren haben. Da wäre es allemal besser, das Geld im Inland auszugeben.

Versagen in der Eurokrise

Wie an dieser Stelle immer wieder erläutert, braucht Europa einen geordneten Prozess, um aus der Überschuldungssituation von Staaten und Privaten herauszufinden. Dazu müssen Gläubiger, also vor allem Deutschland, und Schuldner sich zu einer Kombination aus Schuldenerlass, Schuldensozialisierung und Schuldenstreckung unter Teilnahme der EZB durchringen. Ohne eine solche Bereinigung der faulen Schulden bleibt die Eurozone im japanischen Szenario gefangen. Die Weigerung der deutschen Politik, dies anzuerkennen und entsprechend zu handeln, vergrößert den finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Schaden mit jedem Tag. Das Beharren auf einer Sparpolitik und Reformen ist vordergründig richtig, im Zustand der Überschuldung jedoch kontraproduktiv. Die deutsche Europolitik ist krachend gescheitert und das anstehende Brexit-Votum und die zunehmende Anti-EU- und Euro-Stimmung in den anderen Ländern sind der deutliche Beweis dafür.

Andere Politik nötig

Will die deutsche Regierung einen Brexit und weitere Euroaustritte wirklich verhindern, sollte sie dringend das Steuer herumreißen, und mehr Geld im Inland ausgeben, Innovation, Bildung und Infrastruktur verbessern und mit Reformen den langfristigen Wohlstand sichern. Statt das Geld ins Ausland zu exportieren, würden wir es im eigenen Land verwenden.

Danach sieht es jedoch nicht aus. Lieber verweisen deutsche Politiker und Volkswirte auf die Mängel und den Reformbedarf in anderen Ländern. Ebenso geschlossen steht die Front gegen eine Bereinigung der faulen Schulden, eine Monetarisierung der Schulden über die EZB-Bilanz und eine Neuordnung der Eurozone. Damit bleibt Europa in der Rezession gefangen und der Druck im Kessel nimmt immer weiter zu.

Egal, wie das Votum der Briten in der kommenden Woche ausgeht – die Probleme der EU und vor allem der Eurozone wachsen weiter an. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis in einem Euroland eine Partei mit dem Wahlversprechen an die Macht kommt, alle Probleme des Landes mit einem Austritt aus Euro und EU zu lösen. Mein Hauptkandidat ist und bleibt Italien. Die dortige Rezession dauert schon länger an als jene der 1930er Jahre, die Wirtschaftsleistung liegt noch immer deutlich unter dem schon nicht begeisternden Niveau von 2008. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Staatsverschuldung außer Kontrolle. Eine Schließung des auf 30 Prozent geschätzten Lohnstückkostennachteils gegenüber Deutschland auf dem Wege der „internen Abwertung“, also der Kürzung von Löhnen, völlig illusorisch.

Noch könnte Italien durch einen Austritt aus der Eurozone Teile seiner industriellen Basis retten. Mit einer abgewerteten Lira wäre das Land über Nacht wettbewerbsfähig. Schon vor einem Jahr habe ich an dieser Stelle die Entwicklung in Italien diskutiert und gefordert: Lasst uns aus dem Euro austreten, bevor Italien es tut. Das gilt heute noch mehr als damals. Natürlich wird Deutschland nicht austreten. Nur müssen wir uns dann auf das andere Szenario vorbereiten.

„Uscitalia“ ist das echte Risiko, und unsere Regierung tut alles, damit es passiert. Da hilft dann auch kein „Si prega di non uscire!“ mit italienischer Flagge auf dem Titelbild des SPIEGEL.

manager magazin.de: Briten und Italiener gehen wegen Deutschland, 16. Juni 2016