Deutschlands Zukunft: „Wir können froh sein, wenn es uns so ergeht wie den Japanern“

Das „japanische Szenario“ von wirtschaftlicher Stagnation, Deflation und explodierenden Staatsschulden gilt vielen als das Albtraumszenario einer alternden Gesellschaft. Dabei könnten wir in Deutschland froh sein, wenn es uns so gut erginge. Leider dürfte es viel schlimmer kommen.

Am Ostermontag brachte die FINANCIAL TIMES auf der ersten Seite mal eine andere Geschichte aus Japan. Es ging um die dramatisch steigende Anzahl von Gefängnisinsassen, die älter als 60 Jahre sind. Das könnte man zunächst für einen normalen statistischen Effekt halten, wächst doch auch der Anteil der Bevölkerung über 60 Jahre in Japan deutlich an. Doch es handelt sich um einen überproportionalen Anstieg, und das ist dann doch wieder recht ungewöhnlich, wenn gerade ältere Menschen straffällig werden.

Wie so oft im Leben gibt es eine einfache, wenngleich erschreckende ökonomische Erklärung für diese Entwicklung: Viele Japaner sind im Alter so arm, dass es für sie attraktiver ist, im Gefängnis zu sitzen, bei freier Kost und Logis und guter Gesundheitsversorgung. Ein alleinstehender Rentner kann selbst bei einfachster Lebensführung nicht von der staatlichen Grundrente von umgerechnet rund 6.500 Euro im Jahr leben.

40 Prozent der Alten in Japan haben keine Familie. Ihnen kommt „zugute“, dass in Japan auch mehrfacher einfacher Ladendiebstahl genügt, um hinter Gittern zu landen. 35 Prozent aller Ladendiebstähle werden von über 60-Jährigen begangen, 40 Prozent der Wiederholungstäter in dieser Altersgruppe haben mehr als sechsmal geklaut. Bereits der Diebstahl eines Sandwiches im Wert von 200 Yen (also 1,60 Euro) kann so eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren einbringen.
Seit 1991 ist die Zahl der über 60-Jährigen, die im Gefängnis sitzen, weil sie dieselbe Straftat mehr als sechsmal begangen haben, um 460 Prozent angestiegen.

Deutschland folgt Japan demografisch

Nun könnte man die Achseln zucken und es als ein weiteres Beispiel für das japanische Missmanagement der letzten Jahrzehnte abtun. Doch das wäre falsch. Zu groß sind die Parallelen zwischen der japanischen Entwicklung und dem, was uns droht. Wenn überhaupt, macht unsere derzeitige Wirtschaftspolitik alles nur noch schlimmer.

Die Demografie Deutschlands ähnelt der Japans. Die Zahl der Erwerbspersonen im Alter von 20 bis 64 Jahren wird von heute 50 Millionen auf 44 Millionen in 2030 und 34 Millionen bis zum Jahr 2060 zurückgehen. Innerhalb von 45 Jahren werden also 30 Prozent der Arbeitskräfte wegfallen; gleichzeitig wird die Zahl derer, die sie über das Umlagesystem Rente zu versorgen haben, zunehmen.

Es gibt kein Beispiel für ein prosperierendes Land mit schrumpfender Bevölkerung. Es gibt erst recht kein Beispiel für ein Land mit schrumpfender Bevölkerung, welches in der Lage ist, seine Schulden zu bedienen. Japan ist hierfür das beste Beispiel: Das Wachstum stagniert seit Jahren –, aber das BIP pro Kopf steigt. Der Produktivitätsfortschritt fängt damit den Rückgang der Bevölkerung gerade mal auf. Die Folge ist eine immer höhere Verschuldung relativ zum stagnierenden BIP – und damit das realistische Szenario einer Pleite. Abenomics ist nichts anderes als der verzweifelte Versuch, diese noch abzuwenden. Wie an dieser Stelle regelmäßig dargelegt, wird Japan am Ende nichts anderes übrig bleiben, als die Staatsschulden über die Bilanz der Notenbank zu monetarisieren. Ausgang ungewiss.

Japan ist uns in dieser Entwicklung rund zwanzig Jahre voraus. Deshalb könnte man glauben, dass wir aus den dortigen Fehlern gelernt haben. Leider ist das weit gefehlt. Wohin man auch schaut, machen wir nicht nur die gleichen Fehler, sondern machen noch weitere.

Verschleppung der Schuldenkrise

Die japanische Blase platzte zeitgleich mit dem Überschreiten des Höhepunkts in Bezug auf die Erwerbsbevölkerung. Die Blase in Europa platzte 2009, ebenfalls verbunden mit einem Höchststand der Erwerbsbevölkerung. Dass wir in Deutschland trotz anhaltender Krise in Europa und zunehmender Stagnation der Weltwirtschaft von einem Beschäftigungsrekord zum nächsten eilen, ist einer Sonderkonjunktur geschuldet. Schon bald dürfte sich die Abkühlung in China und den Rohstoffexportländern spürbarer auf die deutsche Konjunktur durchschlagen.

Westliche Beobachter sehen in einer falschen Reaktion der japanischen Wirtschaftspolitik die Ursache für die verlorenen Jahrzehnte: Schulden wurden nicht restrukturiert, sondern verschleppt. Banken wurden nicht rekapitalisiert, sondern mit erleichterten Rechnungslegungsanforderungen als gesund dargestellt. Die Notenbank senkte die Zinsen auf immer tiefere Niveaus und ermöglichte es so Schuldnern und Banken so zu tun, als wäre alles in Ordnung. In Wahrheit wurden so verkrustete Strukturen und Zombiefirmen erhalten. Der Staat hat derweil fundamentale Reformen gescheut und mit immer größeren Konjunkturprogrammen auf Pump versucht, Stagnation und Deflation zu überwinden. Bekanntlich ohne Erfolg.

Doch sind wir in Europa so viel besser? Wohl kaum. Auch Europas Banken sind unterkapitalisiert und sitzen auf Bergen an faulen Schulden. Viele Unternehmen in den Krisenländern erinnern an die japanischen Zombies. Die EZB hat die Zinsen immer tiefer getrieben, Strukturreformen erfolgen – wenn überhaupt – nur schleppend, und die nächste Welle an (notenbankfinanzierten) Konjunkturprogrammen zeichnet sich ab.

Das alles betrifft auch Deutschland. Nicht nur, dass wir in den letzten 10 Jahren keine weiteren Reformen durchgeführt haben, wir haben auch entscheidende Reformen wieder rückgängig gemacht. Tiefere Renteneintrittsalter, höhere Renten, Mindestlohn als Stichworte. Zugleich trifft uns als Gläubigernation die schlechte Entwicklung im Rest der Eurozone mit voller Wucht. Eine Sozialisierung der faulen Staats- und Privatschulden – Stichwort Bankenunion – zeichnet sich ab.

Damit sind wir auf dem exakt gleichen Weg unterwegs wie die Japaner in den letzten 25 Jahren. Hier zusätzlich dadurch verschärft, dass es sich bei uns um keine homogene Nation handelt, sondern um verschiedene Länder, die sich zudem in Gläubiger und Schuldner teilen. In Japan sitzen Gläubiger und Schuldner im selben Land.

Unsere Staatsschulden sind nicht solide

Optimisten könnten dem entgegenhalten, dass wir in Deutschland unsere Staatsschulden rechtzeitig unter Kontrolle gebracht haben. Schließlich haben wir eine „schwarze Null“ – genau gesagt eine Ersparnis der öffentlichen Haushalte von 0,6 Prozent des BIP im letzten Jahr – und planen auch, allen besonderen Ausgaben im Zuge der Flüchtlingskrise zum Trotz, in Zukunft zu sparen. Dennoch gibt es laut der mittelfristigen Planung des Finanzministeriums eine deutliche „Nachhaltigkeitslücke“. Ohne weitere Einsparungen und Kürzungen der Transferleistungen wird auch die deutsche Staatsverschuldung explodieren. Darin sind noch nicht die absehbaren Kosten im Zuge der europäischen Schuldenrestrukturierung enthalten. Diese könnten leicht ein Volumen von einer Billion Euro und mehr erreichen. In Japan hat sicherlich niemand vor 20 Jahren erwartet, dass die Staatsverschuldung so explodiert. Genau dasselbe Schicksal droht auch uns.

Japan sorgt vor

Japan wie auch Deutschland sind exportstarke Nationen. Wie ich an dieser Stelle erläutert habe, bedeuten Exportüberschüsse immer auch den Export von Kapital ins Ausland. Die Japaner verfügen über erhebliches Auslandsvermögen. Auch wir verfügen über Auslandsvermögen, sind jedoch sehr schlechte Geldanleger. Alleine im Zuge der Subprime-Krise haben wir 400 Milliarden Euro verloren. Generell steigen unsere Auslandsvermögen seit Jahren deutlich langsamer als die Summe unserer Kapitalexporte. Dabei setzen wir die schlechte Geldanlage fort. Ein Beispiel sind die TARGET2-Forderungen der Bundesbank in Höhe von 605 Milliarden Euro. Zinslose Kredite an schlechte Schuldner.

Die Japaner scheinen dies besser zu machen, gerade auch mit Blick auf das sich abzeichnende Endspiel im Staatsschuldendrama. So drängt die japanische Regierung darauf, dass Pensionsfonds japanische Staatsanleihen an die Bank of Japan verkaufen und stattdessen in Aktien und ausländische Vermögenswerte diversifizieren. Damit sichert das Land Vermögen für den nicht unwahrscheinlichen Fall, dass die absehbare Monetarisierung der Staatsschulden mit einer Hyperinflation einhergeht. Sollte sich die Entwicklung in Europa ähnlich fortsetzen, gerade auch mit Blick auf die immer offener geforderte direkte Staatsfinanzierung durch die EZB, droht allen Geldvermögensbesitzern ein erheblicher Verlust. Wir Deutsche stehen da an vorderster Front, da wir als Privatanleger aber auch institutionell überwiegend in Finanzvermögen investieren. Keine gute Vorsorge in einer überschuldeten Welt.

Zuwanderung eine Belastung

Japan ist ein sehr abgeschottetes Land. Die Antwort auf die demografische Änderung war jedenfalls nicht mehr Zuwanderung. So liegt der Ausländeranteil bei rund 2 Prozent. Bei uns hat dagegen jeder fünfte Einwohner einen Migrationshintergrund. Daraus könnte man schließen, dass wir in Deutschland eine bessere Antwort auf unsere demografische Herausforderung gefunden haben. Die Bedeutung der Zuwanderung aus diesem ökonomischen Gesichtspunkt wurde gerade im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise von vielen Seiten betont. Allerdings sollten wir uns hier nichts vormachen. Bereits im Jahr 2014 hat die Bertelsmann Stiftung vorgerechnet, dass für jeden heute hier lebenden Menschen mit Migrationshintergrund ein langfristiges Staatsdefizit von 79.100 Euro zu Buche schlägt. Verglichen mit 3.100 Euro für jeden hier lebenden Deutschen. Daraus wurde die Forderung abgeleitet, Deutschland könne sich keine weitere ungesteuerte Zuwanderung leisten: „Eine Wiederholung der Gastarbeitereinwanderung ist weder hinsichtlich der erwähnten Tragfähigkeitslücke noch mit Blick auf den Arbeitsmarkt im 21. Jahrhundert ökonomisch sinnvoll. Wissend um die schon erwähnten demografischen Entwicklungen, ist es mit Blick auf die Wohlstandssicherung in Deutschland hingegen sinnvoll, ja geradezu geboten, qualifizierte Einwanderer ins Land zu holen.“

Genau das machen wir nicht. Die neue Zuwanderungswelle erfolgt aus humanitären Gründen und wir sollten und können uns daraus keinen wirtschaftlichen Nutzen versprechen. Wenn überhaupt werden die Flüchtlinge nur zu einfachsten Arbeiten mit geringen Löhnen in den Arbeitsmarkt integriert werden. Alle bisherigen Erkenntnisse zu Qualifikation und Bildungsfähigkeit der Flüchtlinge sind ernüchternd. Statt eine Entlastung unserer demografischen Probleme zu bekommen, übernehmen wir zusätzliche Kosten. Schätzungen von 450.000 Euro Kosten pro Flüchtling über dessen gesamtes Leben in Deutschland sind nicht unrealistisch. Damit stellen wir die nachfolgende Generation vor eine erhebliche finanzielle Belastung. Nicht nur muss diese für die (ungedeckten) Versprechen für die Versorgung einer weitaus größeren Generation von Alten aufkommen, sondern zusätzlich für die hohen Kosten einer umfangreichen Gruppe an Zuwanderern.

Im Vergleich mit Japan muss man sich dann schon fragen, ob es so falsch ist, bei der Zuwanderung zurückhaltend zu sein, wenn man im globalen Kampf um die besten Talente gegen die Zuwanderungslieblinge USA, Kanada, Singapur, Australien und die Schweiz nicht bestehen kann. Denn nur die wirtschaftlich Besten bringen den Ländern, in die sie zuwandern mehr, als sie kosten.

Mehr Erfolg in der Bildung

Japan ist trotz der Alterung immer noch eine hoch innovative Gesellschaft. Nur so gelingt es, das Wachstum der Produktivität halbwegs aufrechtzuerhalten. Auch wir in Deutschland sind gemessen an der Anzahl Patente noch innovativ, wenngleich diese in ungesundem Masse auf die Automobilindustrie fokussiert sind. Doch perspektivisch stellt sich die Frage, ob wir in der Lage sein werden, im weltweiten Innovationswettbewerb mitzuhalten. Zwar haben sich die schulischen Leistungen nach den letzten PISA-Studien gebessert, dennoch liegen deutsche Schüler in Mathematik mit 514 Punkten deutlich hinter den Kollegen in Shanghai (613), Singapur (573) Hongkong (561), Taiwan (560) und Korea (554). Auch Japan liegt mit 536 Punkten statistisch signifikant vor uns. Schaut man auf die Untergruppe der besonders Talentierten mit Spitzenleistungen, so erreichen 4,05 Prozent der japanischen 15jährigen diese Gruppe und nur 2,6 Prozent der Deutschen. Auch hier liegen Singapur (9,1 Prozent) Hongkong (6 Prozent), Taiwan (5,85) und Korea (4,4) auf einem signifikant höheren Niveau. Gerade diese Gruppe der Höchstleister ist es, die für eine Industrienation unverzichtbar ist. Je unattraktiver Deutschland jedoch wird, vor allem bedingt durch die enormen Kosten von Alterung und Integration, desto größer auch die Wahrscheinlichkeit, dass diese Untergruppe ihre Zukunft in einem anderen Land sieht. Die bereits genannten Zuwanderungslieblinge werden in Zukunft noch intensiver um diese Talente werben. Verlieren wir diese Talente, wird es noch schwerer, die enormen Lasten zu schultern.

So ist Japan auch hier besser gerüstet als Deutschland. Zwar liegen die Geburtenraten in beiden Ländern auf tiefem Niveau. Doch ist Japan erfolgreicher in der Ausbildung der nächsten Generation, die nicht nur in der Kernfähigkeit Mathematik besser abschneidet, sondern zu einem weitaus größeren Teil eine Hochschulausbildung absolviert und vor allem auch in den ökonomisch relevanteren Fächern (Ingenieurwesen, Naturwissenschaften).

Technologiefeindlich statt aufgeschlossen

Hinzu kommt die zunehmende Technologiefeindlichkeit in Deutschland. Wann immer über Automatisierung und zunehmenden Einsatz von Robotern gesprochen wird, sieht es die deutsche Politik und die Medien als eine Bedrohung für unsere Arbeitsplätze. So schrieb der von mir sehr geschätzte Kollege Henrik Müller: „Die Digitalisierung mag eine tolle Sache sein für die Verbraucher und für jene Unternehmen, die die neuen Technologien zu nutzen wissen. Aber was aus all den Beschäftigten wird, deren Tätigkeiten von immer schlaueren Maschinen ersetzt werden, ist höchst unklar.“ Angesichts der auch von ihm immer wieder in Erinnerung gerufenen demografischen Entwicklung sollte er doch, wie wir alle, eine Chance in dieser Entwicklung sehen! Zuwanderung wird leider nicht die Probleme lösen, da es uns immer schwerer fallen dürfte, die für ein Hochtechnologieland erforderlichen Fachkräfte anzulocken. Diese haben schlichtweg zu viele und zu gute Alternativen zu Deutschland.

Japan ist auch hier konsequenter: „Wir wollen Roboter zu einer tragenden Säule unserer Wachstumsstrategie machen“, erklärte Abe gegenüber der Nachrichtenagentur JIJI. Er plane eine Sonderkommission für die „Roboterrevolution“, um den Umsatz der Branche auf 2,4 Billionen Yen (18,9 Milliarden Euro) zu verdreifachen und damit bedeutend größere Wachstumsimpulse auszulösen. Das ist nur konsequent für ein Land, welches bei einer schrumpfenden Gesellschaft den künftigen Wohlstand erhalten will.

Keine Rentnerkriminalität in Deutschland

Wie man sieht, gibt es keinen Grund auf Japan herabzuschauen. Wir haben nichts aus den Problemen des Landes gelernt, sondern sind drauf und dran, dieselben Fehler zu wiederholen und zusätzliche zu begehen.

Dennoch wird es bei uns in 15 Jahren keine Kriminalitätswelle der Rentner geben. Nicht weil wir es besser machen als die Japaner, wie wir gesehen haben, sondern aus anderen Gründen: Zum einen ist unsere Rechtsprechung viel toleranter und man müsste schon einige schwere Straftaten begehen, um es in das Gefängnis zu schaffen. Zum anderen ist die Vermutung sicherlich nicht falsch, dass der Aufenthalt in einer japanischen Haftanstalt, gerade auch mit Blick auf die Mitgefangenen, deutlich angenehmer ist als das Einsitzen in einem hiesigen Gefängnis. Das macht den Ausblick aber eher weniger als mehr erfreulich.

manager magazin.de: „Wir können froh sein, wenn es uns so ergeht wie den Japanern“, 4. April 2016